STEUERMYTHEN

Steuermythen

4. August 2017

„Die oberen Einkommensschichten tragen den Großteil der Steuerlast“   

 

Mythos

In der öffentlichen Debatte um die gerechte Verteilung der Steuerlast wird häufig suggeriert, dass nur die sehr gut verdienenden Menschen zur Finanzierung des Staates und seiner Leistungen herangezogen würden. Der Beitrag der unteren Einkommen sei hingegen entsprechend gering.

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„Die obere Hälfte der Steuerpflichtigen zahlt inzwischen 95 Prozent des Steueraufkommens.“
(FAZ, 11.09.2013) 1

„Dagegen zahlen 50% der Steuerpflichtigen nur 5,5% der Steuern.“
(The European, 06.03.2017) 2

„Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher zahlt 55 % des gesamten Steueraufkommens.“
(„Bild“-Zeitung, 9.8.2010) 3

„Spitzenverdiener tragen Hälfte der Steuerlast.“
(Hamburger Abendblatt, 26.2.2008) 4

„Nur ein kleiner Teil der Bevölkerung sorgt für den Großteil der Einnahmen.“
(Spiegel Online, 24.8.2010) 5

„Warum Besserverdiener den Sozialstaat finanzieren.“
(Die Welt Online, 8.1.2009) 6

 

Diese beispielhaft ausgesuchten Zitate vermitteln den Eindruck, dass die zehn Prozent mit den höchsten Einkommen die Hälfte der gesamten Steuerlast in Deutschland tragen. Diese Darstellung ist nicht richtig! Sie beruht auf drei falschen Annahmen:

1. Es wird so getan, als sei die Einkommenssteuer die einzige Steuerart

Wenn in den Medien von Steuerbelastung die Rede ist, sind meist nur die Lohn- und Einkommensteuern gemeint. Diese sind progressiv gestaffelt, was bedeutet, dass höhere Einkommen überproportional mehr zahlen als niedrigere. In der öffentlichen Diskussion oft unerwähnt bleibt die Tatsache, dass die Einkommensteuer nur einen relativ geringen Anteil am gesamten Steuer- und Abgabenaufkommen ausmacht. Im Jahr 2016 waren es nicht mehr als 19,1 Prozent.
Der mit Abstand größte Anteil am Steuer- und Abgabenaufkommen entfällt auf die Sozialversicherungsbeiträge, die im Jahr 2016 stolze 47,2 Prozent betrugen. Ebenfalls beachtlich ist mit einem Anteil von 16,2 Prozent jenes Aufkommen, das die Umsatzsteuer in die Staatskasse spült. Sowohl Sozialversicherungsabgaben als auch Umsatzsteuern müssen jedoch von allen Einkommensgruppen bezahlt werden. Die Sozialabgaben unterscheiden sich dabei von den Steuern insoweit, dass für einen Großteil von ihnen den Einzahlungen individuelle Leistungen gegenüberstehen, wie zum Beispiel bei der Rente oder der Krankenversicherung. Allerdings findet auch hier eine nennenswerte Umverteilung statt. So hängen die Krankenversicherungsbeiträge vom Lohn ab, während die Leistungen für jeden gleich sind. Daher ist eine genaue Abgrenzung von den Steuern schwierig. Vereinfachend kann man jedoch annehmen, dass 50 Prozent der Sozialabgaben einen steuerähnlichen Charakter haben (vgl. Bach et al., 2016).

In der Finanzwissenschaft herrscht in diesem Zusammenhang darüber Konsens, dass die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung als Lohnbestandteil und somit als Teil des Steuer- und Abgabenaufkommens der arbeitenden Menschen betrachtet werden müssen. In Abbildung 1 sind die Größenordnungen der wichtigsten Steuertypen dargestellt.

An dieser Stelle könnte argumentiert werden, dass das gesamte Steueraufkommen ein schlecht gewählter Bezugsrahmen ist um die Steuerlast natürlicher Personen zu bestimmen, da auch alle von Unternehmen bezahlten Steuern im gesamten Steueraufkommen enthalten sind.

Unterscheidet man zwischen Abgaben, die von natürlichen Personen bezahlt werden, und Abgaben, die von Unternehmen geleistet werden (Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und von Unternehmen entrichtete Steuern wie KfZ-Steuern, oder Energiesteuer) 7, und rechnet man dann – entgegen der einvernehmlichen Meinung der Finanzwissenschaft – auch noch die Arbeitgeberbeiträge nicht als Teil des Bruttolohnes, sondern als Abgaben der Unternehmen hinzu, so ergibt sich folgendes Bild.



Abbildung 1Anteil der wichtigsten Steuern am gesamten Steuer- und Abgabenaufkommen 2016 (Quellen: Bundesministerium der Finanzen, Statistisches Bundesamt und eigene Berechnungen) 8

 

Fakt 1

Die Behauptung, die unteren Einkommen würden keine Steuern zahlen, reduziert das Steuersystem fälschlicherweise auf die Einkommenssteuer

69 Prozent der Steuern und Abgaben werden von natürlichen Personen entrichtet, 31 Prozent hingegen von Unternehmen. Nun können die Unternehmen aus dem gesamten Steueraufkommen hinausgerechnet werden und es bleibt das Steueraufkommen der natürlichen Personen übrig. Der Anteil der Einkommensteuern an den von natürlichen Personen geleisteten Steuern und Abgaben, macht nun genau 28,6 Prozent aus.

Fakt 2

Die progessiv gestaltete Einkommenssteuer macht nicht einmal ein Fünftel des gesamten Steueraufkommens aus

Wenn nun also von interessierter Seite behauptet wird, eine kleine Gruppe trage nahezu die gesamte Steuerlast und die unteren Einkommen zahlten keine Steuern, so ist das eine stark verzerrte Darstellung, die suggeriert, die Einkommensteuer sei die einzige relevante Abgabe. Die Einkommensteuer belastet aufgrund ihrer progressiven Wirkung zweifellos höhere Einkommen stärker, macht aber nicht einmal ein Fünftel des gesamten Steuer- und Abgabenaufkommens bzw. nur 28,6 Prozent des Steuer- und Abgabenaufkommens natürlicher Personen aus. Das heißt, selbst wenn man den strengstmöglichen Maßstab anlegt, wird klar, dass über 70 Prozent aller Steuern und Abgaben von allen Bevölkerungsgruppen bezahlt werden.

2. Es wird so getan, als trügen die oberen Einkommensgruppen, absolut gesehen, den größten Anteil zum Steueraufkommen bei

Wie ist die absolute Steuerlast auf die verschiedenen Einkommensgruppen verteilt? Eine Studie des Rheinisch-Westfälisches Instituts zeigt deutlich, dass insbesondere Haushalte aus dem mittleren Einkommensbereich mit einem Bruttoeinkommen zwischen 20.000 und 70.000 € einen hohen Finanzierungsanteil an den Kosten des Gemeinwesens aufweisen. […] Den größten Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten die Haushalte mit einem Bruttoeinkommen zwischen 30.000 und 40.000 €“ (Beimann et al., 2011).

Natürlich ist auch die Anzahl der Haushalte in den aufkommensstarken Segmenten sehr hoch.
Im Segment zwischen 30.000 und 40.000 Euro sind es mehrere Millionen Haushalte, im Segment über 200.000 Euro lediglich wenige Hunderttausend. Es stimmt also, dass die Spitzeneinkommen überproportional zum Aufkommen der Einkommenssteuer beitragen. Nach der Klassifizierung des RWI schultern die 230.000 Haushalte mit Einkommen über 200.000 Euro 15 Prozent des Einkommensteueraufkommens.

Gleichzeitig bezahlen diese Top-Verdiener jedoch nur 1,2 Prozent des Mehrwertsteueraufkommens und nur 0,9 Prozent der Sozialversicherungsbeiträge.
In der Summe beläuft sich ihr Beitrag zum gesamten Steuer- und Abgabenaufkommen auf 5,7 Prozent. Die breite Masse bis zu einem Jahreseinkommen von 70.000 Euro steuert hingegen Zweidrittel des gesamten Steueraufkommens bei, wie Abbildung 2 verdeutlicht. Die Aussage, die Top-Einkommen finanzierten den Sozialstaat, greift also zu kurz.
Den Löwenanteil aller Steuern und Abgaben tragen de facto die Einkommensbezieher mit weniger als 70.000 Euro.



Abbildung 2Finanzierungsanteile der Haushalte nach Jahreseinkommen an der Einkommenssteuer, den indirekten Steuern (Mwst., Enst., KfzSt.) und den SV-Beiträgen (Quelle: Beimann et al., 2011).
Erläuterung: Die Einkommensklassen sind in Jahreseinkommensklassen unterteilt, die in Schritten von 10.000 Euro anwachsen. Die unterste Klasse von Haushalten verdient unter 10.000 Euro pro Jahr, die nächste 10.000-19.999 Euro, usw. Die höchste Klasse erfasst alle Einkommen über 200.000 Euro ohne weitere Unterteilungen.

 

3. Man betrachtet also Zahlen, aber nicht die relative Belastung der Betroffenen

Fakt 3

Die 230.000 Top-Haushalte mit Einkommen über 200.000 Euro tragen 15 Prozent des Einkommensteueraufkommens, aber nur 5,7 Prozent des gesamten Steueraufkommens

Berücksicht man also alle Steuerarten, zeigt sich, dass die mittleren Einkommensgruppen in absoluten Zahlen den Löwenanteil des Steueraufkommens schultern. Unterteilt man die Haushalte aber nicht in Gruppen gemäß der Einkommensgrenzen, sondern in Hundertstel (sogenannte Perzentile), die jeweils gleich viele Haushalte fassen, ist der Beitrag der obersten beiden Dezile dominant: „Die 20% der Haushalte mit den höchsten Einkommen tragen dementsprechend mit einen Anteil von 46,9% fast die Hälfte des gesamten Aufkommen des Staates“, stellt das RWI fest.

Doch diese Feststellung ist isoliert betrachtet nicht sehr aussagekräftig, weil sie das steuerpolitische Leistungsfähigkeitsprinzip ignoriert. Das oberste Zehntel bezahlt zwar tatsächlich 32,8 Prozent aller Steuern und Abgaben, verdient aber auch 32,1 Prozent aller Einkommen (Bach et al., 2016). Die restlichen 90 Prozent der EinkommensbezieherInnen verdienen dementsprechend 67,9 Prozent der Gesamteinkommen und müssen aber trotzdem die verbleibenden 67,2 Prozent der Steuerlast tragen. So betrachtet ist die Gesamtbelastung der reichsten zehn Prozent erstaunlicher Weise kaum progressiv.

Fakt 4

Das oberste Zehntel bezahlt zwar tatsächlich 32,8 Prozent aller Steuern und Abgaben, verdient aber auch 32,1 Prozent aller Einkommen.

Es ist einleuchtend, dass die oberen Einkommensgruppen absolut einen höheren Beitrag leisten, weil sie auch absolut mehr verdienen. Die entscheidende Frage ist jedoch, wie stark die Einkommensgruppen – relativ gesehen – von der Steuerbelastung betroffen sind.

Fakt 5

Für die reichsten 10 Prozent geht die Belastung durch Einkommensteuern und Sozialabgaben sogar wieder zurück.

Aus Abbildung 3 geht die relative Belastung der Einkommensgruppen hervor.
Es zeigt sich, dass die Einkommen- und Unternehmersteuern stark progressiv wirken, wie vom Gesetzgeber beabsichtigt. Ab dem zwanzigsten Perzentil beginnt die Einkommensteuer zu greifen und steigt beim obersten Perzentil auf 35,1 Prozent an. Auffallend sind der große Anteil der Sozialbeiträge sowie die stark regressive Wirkung der indirekten Steuern.

Darunter zählen die Mehrwert- und Versicherungsteuer, die Energiesteuern und EEG-Umlage, die Tabak-, Alkohol-, und Wettsteuer sowie Grund- und Kfz-Steuer.



Abbildung 3Steuern und Sozialbeiträge* in Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens* 2015** (Quelle: Bach et al. 2017, Integrierte Datenbasis SOEP und EVS sowie Einkommensteuerstatistik, fortgeschrieben auf 2015)

Deutlicher wird die regressive Wirkung der indirekten Steuern, wenn man die Einkommensteuer aus der Betrachtung herauszieht (siehe Abbildung 4). Hier wird auch deutlich, wieso die reine Betrachtung der Einkommensteuer die Gesamtbelastung stark verzerrt, da sie die einzige Steuer ist, die wirklich progressiv verläuft. Selbst die Sozialbeiträge erreichen aufgrund der Beitragsbemessungsgrenze beim 75. Einkommensdezil ihre maximale Belastung des Einkommens und nehmen dann stetig ab.



Abbildung 4Indirekte Steuern und Abgaben in Prozent des Haushaltsbruttoeinkommens 2015* (Quelle: Bach et al. 2017, eigene Berechnung).

Fakt 6

Die progressive Wirkung der Einkommensteuer wird durch die regressive Wirkung der Sozialversicherungsbeiträge und indirekter Steuern fast vollständig aufgehoben.

Es bleibt festzustellen, dass das Steuer- und Abgabensystem in Deutschland nur moderat progressiv und in den unteren Einkommen sogar degressiv verläuft.
Die Realität steht also im krassen Gegensatz zu der weit verbreiteten Meinung, dass die progressive Einkommensteuer zu einem progressiven Steuersystem führt. Tatsächlich wird diese progressive Wirkung der Einkommensteuer durch die regressive Wirkung der Sozialversicherungsbeiträge und indirekter Steuern (wie z. B. der Umsatzsteuer) nahezu aufgehoben.

Literaturverzeichnis

  • Bundesministerium der Finanzen (2011): Kassenmäßige Steuereinnahmen nach Steuerarten in den Kalenderjahren 2006 – 2010.
  • BDI (2008): Die Steuerbelastung der Unternehmen in Deutschland. Fakten für die politische Diskussion 2008. Herausgegeben vom Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. und dem Verband der Chemischen Industrie e.V. Berlin und Frankfurt am Main, September 2008.
  • RWI und FIFO (2009): Wer trägt den Staat? Die aktuelle Verteilung von Steuer– und Beitragslasten auf die Bevölkerung in Deutschland. Endbericht eines Forschungsprojekts des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung und des Finanzwissenschaftlichen Forschungsinstituts an der Universität zu Köln im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie.
    http://en.rwi-essen.de/media/content/pages/publikationen/rwi-projektberichte/PB_Wer-traegt-den-Staat.pdf
  • Beimann, Boris, Rainer Kambeck, Tanja Kasten und Lars-H. Siemers (2011): Wer trägt den Staat? Eine Analyse von Steuer- und Abgabenlasten. RWI Position Nr. 43 vom 1. April 2011.
  • Bach, Stefan; Beznoska, Martin; Steiner, Viktor (2017): Wer trägt die Steuerlast? Verteilungswirkung des deutschen Steuer- und Transfersystems. Hans-Böckler-Stiftung.
  • Bach, Stefan; Beznoska, Martin; Steiner, Viktor (2016): Wer trägt die Steuerlast in Deutschland? Steuerbelastung nur leicht progressiv. DIW Wochenbericht 51+52.

Autor

Dr. Nikolaus Kowall

Dr. Nikolaus Kowall hat mit Unterstützung des IMK an der WU Wien zum Thema Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel promoviert. Seit 2015 leitet er die Geschäftsstelle des FGW in Düsseldorf.