STEUERMYTHEN
Steuermythen
15. Dezember 2021
„Ein einheitlicher CO2-Preis allein schafft ausreichend Investitionsanreize für klimaneutrale Technologien“
Mythos
Insbesondere von wirtschaftsliberaler Seite wird wiederholt behauptet, dass ein einheitlicher CO2-Preis allein diejenigen Investitionsanreize setzt, die für eine klimaneutrale Wirtschaft notwendig sind. Der Preis sorge dafür, dass auf effiziente und kostengünstigste Weise Emissionen in allen Sektoren vermieden werden. Dabei wird verkannt, dass in der kurzen Frist ein einheitlicher Preis zwar zu Emissionsminderungen im Stromsektor führt, gleichzeitig aber für die Bereiche Industrie, Wärme und Verkehr zu gering ist und dort Lock-In-Effekte nach sich ziehen kann. Spätere, zwingend notwendige Klimaschutzinvestitionen sind dann in diesen Sektoren deutlich teurer. Zudem würde das einfache Setzen auf einen CO2-Preis zu sozialen Verwerfungen führen, da ärmere Haushalte relativ stark von (CO2-)Preiserhöhungen betroffen sind. Ein CO2-Preis ist notwendig, muss aber von sozialen Maßnahmen und insbesondere durch staatliche Investitionen in ÖPNV, Industrie und Infrastrukturen flankiert werden.
„Wenn wir eine glaubwürdige politische Ankündigung hätten, dass der CO2-Preis stetig und nicht zu langsam ansteigen wird, […] [d]ann käme der Fortschritt im Bereich CO2-sparender Technologien auch recht schnell, ohne noch große, spezialisierte Förderprogramme für Unternehmen aufzulegen.“
(Der Tagesspiegel 21.06.2020) 1
„CO2-Preis statt Klimaschutz-Planwirtschaft“
(Wirtschaftliche Freiheit, 14.05.2019) 2
„Direkte Staatseingriffe, sektorspezifische Regulierung und staatliches Mikromanagement der CO2-Emissionen […] sollten nach der Einführung einer wirksamen CO2-Bepreisung durch den vorgeschlagenen Emissionshandel entfallen.“
(BMWI, 15.07.2019) 3
Die jüngste Hochwasserkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen hat eindrücklich gezeigt: die Klimakrise ist kein Schreckensszenario einer fernen Zukunft, sondern schon jetzt Realität. Der menschengemachte Klimawandel lässt die weltweite Durchschnittstemperatur steigen. Die Folge sind häufiger vorkommende Extremwetterereignisse wie Starkregen oder Dürre.
Die wirtschaftlichen Schäden sind immens. Neben ausgefallenen Ernteerträgen fallen enorme Kosten für Infrastrukturmaßnahmen an. Straßen müssen repariert, Brücken wieder aufgebaut und kaputte Schienen ersetzt werden. Die Kosten für derlei Reparaturmaßnahmen sind ungleich höher als diejenigen Investitionen, die für einen effektiven Klimaschutz notwendig sind. Frühzeitiges klimapolitisches Handeln kommt nicht nur der Umwelt zugute. Es ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll.
Es stellt sich aber die Frage, mit welchen (ökonomischen) Instrumenten erfolgreicher Klimaschutz umgesetzt werden kann. Wie können Anreize so gesetzt werden, dass Unternehmen ihre Produktion auf klimaneutrale Technologien umstellen? Wie lässt sich menschliches Verhalten so lenken, dass klimaschädliche Aktivitäten verhindert und klimaschonende Maßnahmen begünstigt werden?
Externalitäten internalisieren
Um diese Fragen zu beantworten, sprechen Ökonom*innen gerne von Externalitäten. Denn in der neoklassischen ökonomischen Theorie4 werden Umweltprobleme als externe Angelegenheiten verstanden, deren Kosten nicht bei den Verursachern anfallen, sondern bei Außenstehenden. Ein bekanntes Beispiel ist ein am Fluss gelegenes Chemieunternehmen, das seine umweltbelastenden Abfälle kostenlos im Fluss entsorgt. Die Anwohner weiter flussabwärts sind nun einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Das Chemieunternehmen verursacht Leid und Kosten für andere, aber dafür zahlen muss es nicht.
Um diese Externalitäten zu reduzieren, können sie mit einem Preis versehen werden. Im genannten Beispiel müsste das Chemieunternehmen für die anfallenden Umweltkosten aufkommen und den Fluss reinigen lassen. Würde es dazu verpflichtet werden, wären die Reinigungskosten in die Betriebsplanung des Unternehmens aufzunehmen. Die Kosten bzw. Externalitäten wären internalisiert.
Indem die Kosten internalisiert werden, können Unternehmen eigenständig und rational entscheiden, ob sie Maßnahmen zum Schutz der Umwelt und des Klimas ergreifen wollen oder nicht. Sollten sie dies nicht tun, müssen sie die zusätzlichen (Umwelt-)Kosten tragen und in ihre Produkte einpreisen. Dadurch steigen die Preise für ihre Produkte. Sollte die Nachfrage durch den Preisaufschlag fallen, wäre das Unternehmen dazu angehalten, seine Produktion auf saubere Technologien umzustellen und so langfristig den Preis für seine Produkte wieder zu senken.
In der Debatte um effektive und effiziente Maßnahmen zum Klimaschutz geht es vor allem um einen einheitlichen CO2-Preis. Das zugrundeliegende Kalkül lautet: Wenn für jede Tonne CO2 derselbe einheitliche Preis gilt, ist es betriebswirtschaftlich sinnvoll, überall dort Emissionen zu vermeiden, wo die Vermeidungskosten geringer sind als der geltende CO2-Preis. So werden automatisch die kostengünstigsten Vermeidungsoptionen realisiert. Staatliche Eingriffe in individuelle Konsumentscheidungen oder anders gelagerte soziale Kontrollen wären nicht nötig. Privatwirtschaftliche und auch öffentliche Entscheidungen werden effizient und mit wenig Verwaltungsaufwand getroffen. In der Erwartung eines steigenden CO2-Preises würden auch Investitionsentscheidungen zugunsten klimafreundlicher Technologien und Produktionsweisen getroffen werden. Ein CO2-Preis ist daher nicht nur Verhinderer (klimaschädlicher Aktivitäten), sondern auch Ermöglicher (klimafreundlicher Investitionen). Der CO2-Preis hat daher das Potenzial, die Wirtschaft strukturell so umzugestalten, dass sie innerhalb der planetaren Grenzen agiert – und das zu den kleinstmöglichen Kosten. So die Theorie.
Zwei verwandte Mechanismen: das Preis- und das Mengeninstrument
In der ökonomischen Theorie spielen zwei Mechanismen bei der Internalisierung der Umweltkosten eine Rolle: das Preisinstrument und das Mengeninstrument. Beide Varianten unterscheiden sich nur in der Art ihrer Implementierung. Ansonsten sind beide Mechanismen ähnlich. So gehört zu jeder (CO2-)Menge auch ein Preis. Für den Staat ist es daher theoretisch egal, welche der beiden Optionen er anwendet. Die klimapolitischen Effekte sollten dieselben sein. Der CO2-Preis wäre identisch.
Es kommt auf die Menge an: das Emissionshandelssystem
Bei einem Emissionshandelssystem (ETS) wird ein CO2-Budget (oder Menge bzw. Cap) mit einem vorab verhandelten Reduktionspfad festgelegt, der sich möglichst an den jeweiligen Klimazielen orientiert. Es werden regelmäßig Emissionsberechtigungen bzw. -zertifikate verteilt, die in ihrer Gesamtmenge das festgelegte CO2-Budget ergeben. Ein Zertifikat repräsentiert eine Tonne CO2-Äquivalent. Diese Zertifikate können unter den am Emissionshandelssystem teilnehmenden Akteuren gehandelt werden, wodurch ein Preis entsteht. Die Zertifikate werden versteigert oder kostenlos an die Akteure verteilt. Im europäischen ETS bekommen diejenigen Unternehmen kostenlose Zertifikate, die auf der sogenannten Carbon Leakage Liste stehen. Dies sind Unternehmen, die besonders in internationaler Konkurrenz stehen und bei denen ein (erhöhter) CO2-Preis ihre Wettbewerbsfähigkeit erheblich beeinträchtigen würde.
Fakt 1
Unternehmen der Stromerzeugung hingegen müssen ihre Zertifikate kaufen, indem sie an Auktionen teilnehmen. In ihren betriebswirtschaftlichen Abwägungen spielt der CO2-Preis daher eine große Rolle. Je nach Energieträger kann er die Verdrängung klimaschädlicher Energieproduktion veranlassen. So wurde beispielsweise die Stromerzeugung basierend auf Kohle in den vergangenen Jahren zurückgedrängt. Im Vergleich zu Erdgas etwa ist der CO2-Gehalt einer auf Kohle basierenden Kilowattstunde
Fakt 2
deutlich höher. Durch einen entsprechend hohen CO2-Preis wird die Stromgewinnung aus Kohle zu teuer, um gegen andere Energieträger konkurrenzfähig sein zu können. Die Folge: Kohleverstromung wird aus dem Markt gedrängt. Stattdessen basiert die Stromproduktion vermehrt auf der klimafreundlicheren Alternative Erdgas. Zudem wird die Stromnachfrage von einem immer größeren Anteil Erneuerbarer Energien abgedeckt.
Abbildung 1: EU ETS-Preis
Abbildung 1 Quelle: ICAP (2021)
Allerdings lässt sich beim Mengenmechanismus nie genau vorhersagen, welcher CO2-Preis sich einstellen wird. So lag der EU-ETS-Preis jahrelang unter 10€/tCO2, teilweise sogar unter 5€/tCO2. Drei Gründe waren für den Preisverfall verantwortlich: zu großzügige Caps, Produktionseinbrüche und somit Emissionsrückgänge durch Finanz- und Eurokrise sowie die umfangreiche Nutzung von internationalen Projektgutschriften, bei denen Unternehmen Zertifikate für eingesparte Emissionen im EU-Ausland erhielten.6 Die Folge: der ETS-Preis war zu niedrig, um effektive Emissionseinsparungen zu bewirken.
Damit sich ein derartiger Preisverfall nicht wiederholt, hat die Europäische Kommission für die vierte Handelsperiode (2021-2030) Reformen durchgeführt, die bereits im Vorgriff auf die Handelsperiode zu signifikanten Preissteigerungen auf dem ETS-Markt führten. Erstens reduziert sich die Menge der ausgegebenen Zertifikate pro Jahr deutlich schneller. Der sogenannte lineare Reduktionsfaktor wurde von 1,7% auf 2,2% angehoben.7 Zweitens werden überschüssige Zertifikate, die aufgrund einer zu geringen Nachfrage nicht gebraucht werden, in die Marktstabilitätsreserve überführt. Dort werden sie zunächst geparkt, um zu einem späteren Zeitpunkt versteigert zu werden. In der Realität werden diese überschüssigen Zertifikate zumeist jedoch gelöscht, sodass es zu keinem Überhang an Zertifikaten kommt. Außerdem haben die am ETS teilnehmenden Mitgliedstaaten die Möglichkeit, eigenständig Zertifikate zu löschen, die in Folge von nationalen Klimaschutzmaßnahmen (beispielsweise Kohleausstiegsgesetz) überschüssig sind.
Trotz dieser zweifelsohne wichtigen Reformmaßnahmen bleibt der Nachteil der Planungsunsicherheit bestehen. Wie sich der CO2- bzw. ETS-Preis entwickelt, kann niemand vorhersagen. Entsprechend groß ist die Unsicherheit darüber, ob Unternehmen auch tatsächlich klimafreundliche Zukunftsinvestitionen veranlassen werden. Zudem: Für einen perfekt funktionierenden Markt, der – gemäß der Theorie – einen effektiven Emissionshandel erst ermöglicht, müsste der Zeithorizont erweitert werden. Im Idealfall reicht er bis zu dem Punkt in der Zukunft, an dem die Emissionsmenge des Marktes null ist und somit Klimaneutralität vorherrscht. Erst dann erhielten die Unternehmen vollständige Planungssicherheit und könnten den richtigen Zertifikatepreis aushandeln. Das würde zu einer Preissteigerung führen und klimaneutrale Investitionen erzwingen.
Der Preis ist heiß: die CO2-Steuer
Die CO2-Steuer folgt dem Preisprinzip. Vorab wird ein bestimmter Preis pro Tonne CO2 festgesetzt. Dieser sollte so hoch sein, dass CO2-Einsparungen auch tatsächlich angereizt werden. Daher sollte der Preis genau auf der Höhe angesetzt werden, die sich auch bei einem vollständigen und perfekten Emissionshandelssystem einstellen würde. Offensichtlich ist die richtige Festsetzung der CO2-Steuer in der Praxis jedoch schwierig.
Im Vergleich zum Mengeninstrument gibt das Preisinstrument den Unternehmen Planungssicherheit über die anstehenden CO2-Kosten. Sie können die CO2-Kosten in ihre Geschäftsplanung fest einkalkulieren und müssen sich nicht gegen plötzliche Preisschwankungen absichern. Sie können sich in ihren Investitionsentscheidungen auf einen festen Steuersatz verlassen. Der Nachteil: Die tatsächliche Emissionsmenge, die von den Unternehmen ausgestoßen bzw. eingespart wird, ist nicht exakt vorhersehbar. Klimaziele könnten trotz CO2-Steuer nicht erreicht werden.
In einigen Ländern werden Emissionshandel und CO2-Steuer gleichzeitig eingesetzt. So haben etwa Schweden und die Schweiz nationale Steuern auf den Verbrauch von fossilen Brennstoffen in den Sektoren Gebäude und Verkehr, die nicht Teil des europäischen Emissionshandels sind. Während die CO2-Steuer in der Schweiz 120 Franken pro Tonne CO2 (etwa 112€/tCO2) beträgt, müssen Unternehmen und Verbraucher*innen in Schweden die weltweit höchste CO2-Steuer (1200 schwedische Kronen pro Tonne CO2 bzw. 117€/tCO2) zahlen.
Fakt 3
Der nationale Emissionshandel in Deutschland
Seit 2021 hat Deutschland einen eigenen nationalen CO2-Preis, der für die Bereiche Wärmeerzeugung und Verkehr gilt und somit ergänzend zum europäischen ETS wirkt. Der nationale Emissionshandel funktioniert ähnlich wie sein europäisches Pendant nach dem Prinzip „Cap and Trade“. Die Politik entscheidet, wie viele Emissionen insgesamt ausgestoßen werden dürfen. Begrenzungen für einzelne, am Handelssystem teilnehmende Akteure gibt es nicht. Anders als der europäische ETS folgt der deutsche Emissionshandel nicht dem Verursacherprinzip (auch „Downstream“-Emissionshandel genannt), wonach die Zertifikate von denjenigen Akteuren gekauft werden müssen, die tatsächlich für den Emissionsausstoß verantwortlich sind. Vielmehr adressiert das nationale System die Inverkehrbringer von Brennstoffen, welche die Zertifikate erwerben müssen (auch „Upstream“-Emissionshandel genannt). Sie müssen für die Emissionen bezahlen, die erst in einem nächsten Schritt tatsächlich auch ausgestoßen werden. So muss beispielsweise nicht jeder einzelne Autofahrer ein Zertifikat erwerben, um mit seinem Benziner oder Diesel fahren zu können. Die Tankstellenbetreiber stehen in der Pflicht, entsprechende Emissionsrechte zu kaufen. Die Kosten geben sie dann an die Verbraucher*innen weiter.
Die Höhe des zulässigen Caps leitet sich aus den Reduktionsverpflichtungen ab, welche die europäische Effort Sharing Regulation definiert und alle CO2-Emissionen außerhalb des EU-ETS adressiert. Im Unterschied zum europäischen System wird der Preis im deutschen Emissionshandel in den kommenden Jahren zunächst nicht frei auf dem Markt bestimmt. Von 2021 bis 2025 ist der Preis festgesetzt. Daher entspricht der nationale ETS auch derzeit eher einer CO2-Steuer. Ab 2026 kann der Preis zwischen 55€/tCO2 und 65€/tCO2 „floaten“. Die nachfolgende Grafik zeigt die Preisentwicklung, wie sie derzeit beschlossen ist und vom aktuellen Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung bestätigt wurde. Allerdings dürfte schon jetzt klar sein, dass dieser CO2-Preis in den Sektoren Gebäude und Verkehr kaum eine hinreichende Wirkung erzielen wird.
Abbildung 2: CO2-Preispfad in Deutschland
Abbildung 2 Quelle: DEHSt
Die folgende Grafik zeigt die daraus erwarteten Preiserhöhungen auf Brennstoffe. So erstreckt sich der Kostenaufschlag bei leichtem Heizöl und Diesel von 7 Cent pro Liter in 2021 bis 15 Cent pro Liter in 2025. Die zusätzlichen Kosten für einen Liter Superbenzin erhöhen sich von 6 Cent in 2021 auf 13 Cent in 2025. Aufgrund seines vergleichsweise geringen CO2-Gehalts ist die Teuerungsrate bei Erdgas deutlich geringer als bei den anderen Energieträgern.
Abbildung 3: Preiserhöhungen auf Brennstoffe
Abbildung 3 Quelle: DEHSt
Quo vadis Deutschland?
Im Jahr 2019 hat die Bundesregierung das deutsche Klimaschutzgesetz beschlossen. Es enthält unter anderem Sektorziele für die Jahre 2030 und 2050. Demnach sollte nach der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts Klimaneutralität herrschen. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April 2021, wonach das Klimaschutzgesetz in Teilen verfassungswidrig ist, legte die Bundesregierung eine Novellierung des Klimaschutzgesetzes vor und verbesserte die sektoralen Zielvorgaben. Klimaneutralität soll nun in 2045 erreicht sein. Es ist unklar, ob die Ampel-Regierung die sektoralen Zielvorgaben aufgeben wird und stattdessen die Einhaltung der Klimaziele ausschließlich sektorübergreifend verfolgt. Der Koalitionsvertrag lässt hier viel Spielraum für Interpretation. Das Beibehalten einer sektoralen Betrachtung wäre in jedem Fall begrüßenswert. Denn das Fehlen von starken klimapolitischen Signalen könnte in manchen Branchen dazu führen, dass in der kurzen Frist Investitionen in langlebige Kapitalgüter getätigt werden, die weiterhin auf fossilen Energien beruhen und somit Pfadabhängigkeiten in fossilen Technologien zementieren.
Die folgende Grafik zeigt, wie sich die zulässigen Emissionsmengen in den einzelnen Sektoren laut aktuellem Klimaschutzgesetz entwickeln sollen. Die hellgrau gestrichelte Fläche repräsentiert die Emissionsmenge, die mit dem alten Klimaschutzgesetz noch zulässig gewesen wäre.
Abbildung 4: Emissionsreduktionspfad gemäß nationaler Klimaziele bzw. Paris-kompatiblem CO2-Budget8
Abbildung 4 Quelle: SRU 2020, UBA 2020, BMU 2021
Die Grafik zeigt eindrücklich, welche Kraftanstrengung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in den jeweiligen Sektoren bevorstehen. Die gesetzten Sektorziele sind ein klarer Bruch mit dem Trend der letzten Jahre. Bis 2030 sollen 65% Treibhausgasminderung im Vergleich zu 1990 erreicht werden. Sofern die sektoralen Zielvorgaben Bestand haben, fällt der größte Reduzierungsanteil auf die Sektoren Energie und Industrie. Sie sind weiterhin die Sektoren mit den meisten Emissionen. Gleichzeitig sind die Vermeidungskosten hier vergleichsweise geringer. In der Industrie sollen die Emissionen nun bis 2030 um 58% gegenüber 1990 sinken. Im Energiesektor beläuft sich die anvisierte Reduktion auf 77%.
Die Bundesregierung setzt in ihren Klimabemühungen der kommenden Jahre in erster Linie auf die Wirksamkeit des europäischen Emissionshandelssystems. Selbst wenn die einzelnen Sektorziele nicht weiter gesetzlich festgelegt sein sollten, werden die Sektoren Industrie und Energie für den Großteil der Emissionsminderungen in Deutschland in den kommenden Jahren verantwortlich sein. Grund hierfür ist das deutlich stärkere Preissignal im ETS. Die restlichen Sektoren sollen – zumindest in den kommenden fünf Jahren – durch den nationalen Emissionshandel adressiert werden. Aufgrund des geringen CO2-Preises wird es hier jedoch kaum zu hinreichenden Verhaltensänderungen kommen.
Denn der CO2-Preis wirkt in den jeweiligen Sektoren sehr unterschiedlich. Während im Stromsektor ein Preis von 20€/tCO2 schon zu substanziellen Veränderungen führen kann, liegen die industriellen CO2-Vermeidungskosten bei der Herstellung von CO2-freiem Stahl zum Beispiel bei 145€/tCO2. Im Verkehrssektor betragen die CO2-Vermeidungskosten gar 200€/tCO2 bis 400€/tCO2 – und liegen damit deutlich über dem hierzulande geplanten CO2-Preispfad. Auch im Gebäudesektor braucht es ein deutlich stärkeres Preissignal. Für eine ausreichende Lenkungswirkung ist ein CO2-Preis zwischen 150€/tCO2 und 370€/tCO2 nötig.9 Deswegen laufen Forderungen nach einem einheitlichen CO2-Preis (zum Beispiel in einem Emissionshandelssystem über alle Sektoren) – zumindest in der kurzen Frist – ins Leere. Der sich einstellende Preis würde insbesondere auf dem Strommarkt die Emissionen schnell reduzieren und beispielswiese die Kohlekraftwerke schon deutlich vor 2030 aus dem Markt drängen. Gleichzeitig würde sich in den Sektoren Verkehr und Gebäude wenig bis gar nichts tun. Die nicht vorhandenen Anreize würden zu fossilen Lock-Ins in diesen Sektoren führen und klimafreundliche Investitionen in die Zukunft verschieben, die dann deutlich teurer sind. Längerfristig ist ein einheitlicher, über alle Sektoren wirksamer Preis jedoch denkbar.
Fakt 4
Im Industriesektor sind zwar die Vermeidungskosten geringer als in den Sektoren Wärme und Verkehr. Doch auch hier ist das Preissignal unzureichend für entsprechende Investitionen. Klimaneutrale Technologien sind bislang schlichtweg zu teuer. Selbst bei einem CO2-Preis von beispielsweise 100€/tCO2 würden die Unternehmen völlig rational handeln, wenn sie weiterhin auf fossile Technologien setzen. Ein einfaches Warten auf einen hinreichend hohen CO2-Preis in der Zukunft könnte jedoch fatale Folgen haben. Denn in den Branchen Stahl, Zement und Chemie stehen in den kommenden Jahren erhebliche Ersatzinvestitionen in Anlagen an, die über mehrere Jahrzehnte laufen.10 Wird das Umstellen auf klimaneutrale Produktionstechnologien verpasst, verharren die Unternehmen auf dem fossilen Pfad. Später zwingend wirksame Klimaneutralitätsanforderungen können dann dazu führen, dass Unternehmen schlicht nicht mehr produzieren dürfen. Gut bezahlte Arbeitsplätze können verloren gehen. Gleichzeitig muss man festhalten: Ein schon heute hoher und wirksamer CO2-Preis würde die Industrie vor erhebliche Probleme stellen. Denn ohne Zweifel würde ein zu hoher CO2-Preis die internationale Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen energieintensiven Industrie schwächen. Unternehmen müssten schließen oder würden ins außereuropäische Ausland abwandern. Arbeitsplätze hierzulande gingen verloren.
Neben dem Industriesektor dürften sich auch in den nicht-EU-ETS-Sektoren Gebäude und Verkehr die Emissionseinsparungen nur unzureichend entwickeln. Der nationale CO2-Preis ist schlichtweg zu gering, um umfangreiche Reduktionsbemühungen anzustoßen. Weitere Probleme kommen hinzu, die das Umstellen auf umweltschonende Konsumoptionen erschweren. So braucht es im Verkehrssektor effektive Alternativen zum Auto – gerade in den Randgebieten der Städte und auf dem Land. Wenn dort tagsüber kein Bus fährt oder Fahrradwege nicht existieren, dann ist ein Umsteigen auf umweltschonende Optionen kaum möglich. Ein CO2-Preis hätte dann lediglich die Wirkung, dass Autofahrer*innen mehr für den Liter Benzin oder Diesel zahlen müssten. Die finanzielle Situation insbesondere einkommensschwacher Haushalte in ländlichen Regionen, die auf das Auto angewiesen sind, kann sich so weiter verschärfen. Auch das theoretisch denkbare Umsteigen auf ein E-Auto ist in vielen Fällen praktisch nicht möglich. E-Autos sind in der Anschaffung weiterhin sehr teuer. Zudem fehlt eine gut ausgebaute Ladeinfrastruktur – gerade auf dem Land. Daher braucht es neben einem hinreichend hohen CO2-Preis auch den gleichzeitigen Ausbau von ÖPNV, Fahrradwegen und sonstigen umweltschonenden Alternativen. Laut Ampel-Koalitionsvertrag sollen mit Hilfe eines Modernisierungspakts, bei dem sich Bund, Länder und Kommunen unter anderem über Finanzierungsanteile verständigen, die Kapazitäten des ÖPNV ausgebaut und die Qualität verbessert werden. Die Regierung hat sich zudem das Ziel gesetzt, bis 2030 ein Netz von einer Million öffentlich zugänglichen Ladesäulen zu etablieren.
Im Gebäudesektor besteht die Gefahr des Mieter-Vermieter-Dilemmas. Demnach werden die CO2-Preise an die Mieter*innen weitergegeben. Diese müssen nun für höhere Heizkosten aufkommen. Gleichzeitig liegt die Investitionsverantwortung bei den Vermieter*innen. Für Sanierung und Austausch des Wärmesystems sind sie zuständig. Die Mieter*innen haben daher keine Entscheidungsgewalt über mögliche Vermeidungsoptionen – Vermieter*innen keinen Anreiz, diese umzusetzen. Auch hier ist die CO2-Bepreisung lediglich eine zusätzliche Belastung vor allem einkommensschwacher Haushalte. Die Ampel-Koalition hat das erkannt und will zum 1. Juni 2022 die erhöhten Kosten durch den CO2-Preis hälftig zwischen Vermieter*innen und Mieter*innen aufteilen, sofern andere Maßnahmen wie ein Stufenmodell nach Gebäudeenergieklassen nicht rechtzeitig eingeführt werden.
Der Staat ist gefragt
Es ist deutlich geworden: ein CO2-Preis allein reicht nicht aus, um die Transformation der Wirtschaft in allen Sektoren zügig und umfangreich voranzubringen. Selbst im Stromsektor bedarf es stärkerer Investitionstätigkeit, um das Angebot an Erneuerbaren Energien auszuweiten und ihren Anteil am Strommix zu vergrößern. Wichtige Schritte wären beispielsweise die Verringerung der Abstandsregeln zu Windrädern oder die vermehrte Ausweisung von Solarpark-Flächen. Die ambitionierteren Ausbauziele im Koalitionsvertrag für Wind- und Solarenergie sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Fakt 5
Für eine wirksame sozial-ökologische Transformation kommt daher dem Staat eine wichtige Rolle zu. Als aktiver und strategischer Investor ist er unabdingbar für den klimaneutralen Umbau der hiesigen energieintensiven Industrie. Über sogenannte Carbon Contracts for Difference (CCfD) kann der Staat die zusätzlichen Kosten, die durch die Verwendung klimaneutraler Produktionstechnologien entstehen, für einen bestimmten Zeitraum übernehmen und so dazu beitragen, dass der Industriestandort Deutschland auch in Zukunft Bestand hat.11 Vor Konkurrenz aus dem Ausland, in dem keine Kosten durch CO2-Preise anfallen, kann ein CO2-Grenzausgleichsmechanismus schützen. Produkte aus dem Ausland bzw. aus Nicht-EU-Ländern (wenn die EU einen Grenzausgleich einführt) würden sich demnach bei der Einfuhr um die Höhe des EU-ETS-Preises verteuern. Neben den finanziellen Anreizen für Klimaschutzinvestitionen sind zudem zusätzliche Investitionen in neue Infrastrukturen wie beispielsweise Wasserstoffnetze unumgänglich. Auch hier muss der Staat aktiv werden. Folgt man den Ausführungen im Koalitionsvertrag, so hat die künftige Regierung dies erkannt. CCfD werden ebenso genannt wie Investitionen in den Aufbau einer Wasserstoffnetzinfrastruktur. Genaue Details, wie dies umgesetzt werden soll und wie hoch die Investitionen letztendlich sein sollen, fehlen leider.
Im Verkehrs- und Gebäudesektor ist ebenfalls staatliches Engagement notwendig. Neben Investitionen in ÖPNV, Schienennetz und Fahrradwege müssen vor allem einkommensschwache Haushalte vor einseitigen (CO2-)Preiserhöhungen geschützt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, Klimaschutz auf dem Rücken der Schwächsten zu betreiben. Um dies zu verhindern, wurden bereits vor der Einführung des nationalen Emissionshandels Vorschläge für eine sogenannte Klimaprämie oder Klimadividende gemacht. Demnach würde das Aufkommen aus der CO2-Steuer teilweise oder vollständig als einheitlicher Betrag an alle Bürger*innen ausgezahlt. In Relation zum Einkommen würden ärmere Haushalte stärker von dieser Prämie profitieren. Dem regressiven Effekt einer CO2-Bepreisung könnte so entgegengewirkt werden. Zugleich bliebe der Steuerungsmechanismus eines CO2-Preises bestehen.12
Abbildung 5: CO2-Preisbelastung der Haushalte bei vollständiger Rückerstattung des CO2-Preises (Klimadividende)
Abbildung 5 Quelle: MCC CO2-Preis-Rechner. Version 1.0. Basierend auf EVS 2018: https://mcc-berlin.shinyapps.io/co2preisrechner/
Abbildung 5 verdeutlicht, wie eine Klimadividende bei unterschiedlichen CO2-Preisen über die einzelnen Einkommensdezile wirkt. Dargestellt ist die durchschnittliche Be- bzw. Entlastung pro Jahr und Haushalt, wenn die Einnahmen aus dem CO2-Preis vollständig als pauschale pro-Kopf-Zahlung an die Haushalte zurückfließen.13 Demnach werden unabhängig vom CO2-Preis Haushalte der unteren fünf Einkommensdezile netto entlastet. Je höher der Preis ausfällt, desto größer der Betrag der Rückerstattung am Ende des Jahres. Lediglich die Haushalte der oberen fünf Einkommensdezile werden durch einen CO2-Preis netto belastet. Der Grund: Ärmere Haushalte konsumieren deutlich weniger emissionsintensive Güter im Vergleich zu reicheren Haushalten. Sie fahren wenig bis gar kein Auto und wohnen in kleineren Wohnungen und Häusern, wodurch die Heizkosten geringer ausfallen. Durch die pro-Kopf-Rückerstattung würden diese Haushalte netto entlastet. Das Ergebnis wäre ein effektiver Klimaschutz mit starker sozialer Komponente.
Die Ampel-Koalition will die EEG-Umlage zum Jahresbeginn 2023 in den Bundeshaushalt übernehmen. Stromverbraucher*innen müssen diese dann nicht mehr zahlen. Der Strompreis verringert sich. Eine Übernahme der EEG-Umlage durch den Bund wirkt relativ zum Einkommen progressiv. Jedoch werden absolut besonders einkommensstarke Einkommen entlastet, da sie deutlich mehr Strom verbrauchen als ärmere Haushalte.14 Somit profitieren vor allem reichere Haushalte. Allerdings wollen SPD, Grüne und FDP einen Vorschlag zur Ausgestaltung des nationalen Emissionshandels nach 2026 machen und im Zuge dessen einen sozialen Kompensationsmechanismus wie etwa die Klimadividende entwickeln.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Wirkungsvoller Klimaschutz kann nicht allein auf die Lenkungswirkung eines CO2-Preises setzen. Er ist notwendig, um klimaschädliches Produzieren und Konsumieren zu bestrafen. Er taugt aber weniger als Anreiz für umfangreiche Investitionen in allen Sektoren. Ein CO2-Preis ist mehr Verhinderer als Ermöglicher. Daher ist der Staat als aktiver und strategischer Investor gefragt. Deutlich mehr öffentliche Investitionen in den Klimaschutz und die Einführung einer Klimaprämie sind notwendige Bedingungen für eine sozial-ökologische Transformation. Die kommende Ampel-Regierung wird sich daran messen lassen müssen. Die nächsten Jahre sind entscheidend. Man darf gespannt sein.
Literaturverzeichnis
Agora Energiewende und Wuppertal Institut (2019): Klimaneutrale Industrie: Schlüsseltechnologien und Politikoptionen für Stahl, Chemie und Zement. https://static.agora-energiewende.de/fileadmin/Projekte/2018/Dekarbonisierung_Industrie/164_A-EW_Klimaneutrale-Industrie_Studie_WEB.pdf
BCG & prognos (2018): Klimapfade für Deutschland.
BMU (2021): Novelle des Klimaschutzgesetzes vom Bundestag beschlossen. https://www.bmu.de/pressemitteilung/novelle-des-klimaschutzgesetzes-vom-bundestag-beschlossen
DEHSt: Nationalen Emissionshandel verstehen. https://www.dehst.de/DE/Nationaler-Emissionshandel/nEHS-verstehen/nehs-verstehen_node.html#doc16289984
Forum Ökologisch-Soziale Marktwirtschaft (2021): Soziale und ökologische Auswirkungen einer Senkung der EEG-Umlage. https://foes.de/publikationen/2021/2021-06_FOES_EEG_Umlagesenkung.pdf
Gechert et al. (2019): Wirtschaftliche Instrumente für eine klima- und sozialverträgliche CO2-Bepreisung.
ICAP (2021): Allowance Price Explorer. https://icapcarbonaction.com/en/ets-prices
Mercator Institute on Global Commons and Climate Change (MCC): CO2-Preis-Rechner. Version 1.0. Basierend auf EVS 2018. https://mcc-berlin.shinyapps.io/co2preisrechner/
SRU (2020): Für eine entschlossene Umweltpolitik in Deutschland und Europa. Umweltgutachten 2020.
UBA (2020): Nationale Trendtabellen für die Treibhausgas-Emissionen nach Sektoren des Klimaschutzgesetzes
Thie & Görlach (2019): Wie der klimaneutrale Umbau des Industriestandorts Deutschland gelingen kann. https://makronom.de/wie-der-klimaneutrale-umbau-des-industriestandorts-deutschland-gelingen-kann-33668
Autor
Jan-Erik Thie
ist Doktorand am Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung. Sein Fokus liegt auf klima- und makroökonomischen Themen. Zuvor hat er einen Master Economics an der Universität Potsdam absolviert und war Junior Researcher am Ecologic Institut.