STEUERMYTHEN

Steuermythen

3. April 2013

„Unser Steuergeld versickert in der Sozialbürokratie“   

 

Mythos

Immer wieder heißt es, dass der Sozialstaat permanent seine Verwaltung aufblähe. Und für den überbordenen Verwaltungsapparat der Sozialbürokratie und der gesetzlichen Krankenkassen müsse der Bürger aufkommen. Insgesamt sei die staatliche Zwangsverordnung völlig ineffizient. Eine privat organisierte Daseinsvorsorge würde den Versicherten massive Kostenersparnisse bringen.

af60

„Sozialstaat: Und er wuchert doch“ 1

„Sozialstaat oft ineffizient“ 2

„Das deutsche Gesundheitssystem ist ineffizient und teuer“ 3

„Krankenkassen entwickeln Fettsucht“ 4  

 

Wenn die öffentliche Hand ihre Mittel nicht sorgfältig einsetzen würde, könnte dies eine privatwirtschaftliche Organisation der Leistungen, die bei gleicher Qualität spürbar kostengünstiger wäre, natürlich rechtfertigen. Nur lässt sich dieser oftmals unterstellte Kostenvorteil privat organisierter Daseinsvorsorge empirisch nicht belegen. Im Gegenteil – die zur Verfügung stehenden Vergleichsdaten weisen eher auf eine höhere Effizienz staatlicher Systeme hin, da diese die Verwaltung zentralisieren können und keine Kosten für den Vertrieb anfallen. Exemplarisch kann die Diskussion anhand des Gesundheitssystems beleuchtet werden. Dazu bietet sich sowohl ein internationaler Vergleich, als auch ein Vergleich zwischen staatlichen und privaten Anbietern in Deutschland an.

Wie aus Abbildung 1 hervorgeht, lagen die deutschen Gesundheitsausgaben pro Kopf 2009 im Mittelfeld der entwickelten Staaten. Mit kaufkraftbereinigten Gesundheitsausgaben pro Kopf in der Höhe von 4.200 US-Dollar wies das deutsche System deutlich geringere Pro-Kopf-Kosten auf als beispielsweise das Schweizer Gesundheitswesen mit 5.140 US-Dollar. Spitzenreiter ist das US-Gesundheitssystem mit 7.960 US-Dollar pro Kopf.

Abbildung 1Gesundheitsausgaben pro Kopf in entwickelten Staaten in USD (in Kaufkraftparitäten) 2009 (Quelle: OECD Health Data 2011)

Im deutschen Gesundheitswesen werden 77 Prozent der Gesundheitsausgaben von der öffentlichen Hand getätigt. Damit liegt Deutschland im europäischen Schnitt. Doch im deutlich teureren Schweizer Gesundheitssystem beträgt der Anteil der öffentlichen Hand nur 60 Prozent an den Ausgaben.

Im besonders teuren US-amerikanischen System schlagen die öffentlichen Ausgaben für die Gesundheit sogar bloß mit 48 Prozent an den Gesamtkosten zu Buche (OECD, 2009). Auf eine generell effizientere Organisation der privaten Gesundheitsvorsorge weisen diese Zahlen nicht hin.

Arbeiten die gesetzlichen Kassen ineffizient?

Am Beispiel der Verwaltung der gesetzlichen Krankenkassen lässt sich die häufig kolportierte Auffassung von den ineffizienten Kassen recht anschaulich diskutieren. Unter dem reißerischen Titel „Krankenkassen entwickeln Fettsucht“ zitierte der Spiegel (2006) eine Berechnung der „Bild“-Zeitung, die besagte, „dass die Kassen 1995 noch 6,1 Milliarden Euro für ihre eigene Verwaltung ausgaben.

Das seien umgerechnet 121,05 Euro pro Mitglied. Bis zum Jahr 2005 stiegen die Ausgaben auf 8,15 Milliarden Euro. Dies entspreche 161,84 Euro pro Mitglied“ (Spiegel Online, 2006). Bei der Leserin und beim Leser entsteht durch die Nennung solcher Zahlen der Eindruck, als würden die Kassen von ihren eigenen Verwaltungskosten aufgefressen.

 

Fakt 1

Die Gesundheitsausgaben pro Kopf liegen in Deutschland unter jenen der Schweiz und den USA – beides Staaten, in denen private Versicherer eine deutlich größere Rolle als hierzulande im Gesundheitswesen spielen

Diese Darstellung ist aus zwei Gründen unseriös: Erstens ist bei der Berechnung die allgemeine Preissteigerung von 14 Prozent innerhalb der beobachteten zehn Jahre unberücksichtigt geblieben. In Preisen von 2005 lagen die Verwaltungskosten im Jahr 1995 bei genau 7 Milliarden Euro. Damit ist aber der halbe Kostenanstieg bereits erklärt. Ein weiterer Grund liegt in dem Umstand, dass die Kassen auch immer neue Aufgaben übertragen bekommen – beispielsweise durch die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte oder durch die Pflicht zur Ausschreibung von Leistungen (Osterkamp, 2008).

Entscheidend ist ebenfalls, dass das Sparpotential realistisch eingeschätzt und in seinen Dimensionen angemessen beurteilt wird. Das Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) übertitelt eine eigene Pressemeldung vom Juli 2010 folgendermaßen: „Verwaltungskosten der Krankenkassen: Studie belegt Einsparungen in Milliardenhöhe“ (RWI, 2010). Statt derzeit 10,5 Milliarden Euro (149 Euro pro Versicherten) müsste die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) der Studie zufolge nur 9,09 Milliarden Euro pro Jahr für die Verwaltung ausgeben. Der entscheidende Punkt ist hier allerdings: Selbst wenn die Einsparungen wirklich realisierbar wären und die Kassen die Beiträge entsprechend senken könnten, erspart sich der/die einzelne Versicherte nur knapp 20 Euro pro Jahr. Die Verwaltungskosten von 10,5 Mrd. machen nur 6,1 Prozent der gesamten Ausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherung aus (Handelsblatt, 2010). Das bedeutet im Umkehrschluss, 94 Prozent aller Gelder werden für die Gesundheitsleistungen verwendet. 5Das genannte Einsparpotenzial bei der Verwaltung in Milliardenhöhe hört sich im ersten Moment zwar gewaltig an. Aber die etwas über eine Milliarden Euro, die nach Ansicht des RWI eingespart werden könnten, sind gemessen an der deutschen Wirtschaftsleistung von 2.500 Milliarden Euro nur ein 2.500stel.
Gemessen am deutschen Steuer- und Abgabenaufkommen von 1.000 Milliarden Euro entsprächen diese Einsparungen nur ein 1.000stel und gemessen an den gesamten Einnahmen der GKV lediglich ein 170stel. Das erklärt auch, warum sich nur ein Einsparpotenzial von 20 Euro pro Versichertem/r ergibt. Wieso das RWI den Eindruck erwecken will, als könne hier im großen Stil gespart werden, kann nur das Institut selbst beantworten.

Private Anbieter haben höhere Verwaltungskosten

Einen Vergleich mit den privaten Versicherern, wie in Tabelle 1 vorgenommen, brauchen die gesetzlichen Kassen keinesfalls zu scheuen. Mit 4,5 Mrd. Euro Verwaltungskosten für nur zehn Prozent aller Versicherten sind die Kosten pro Kopf bei den privaten Kassen den Recherchen des Handelsblatts zufolge fast drei Mal so hoch wie bei den gesetzlichen Kassen (Handelsblatt, 2010).
Die Recherchen des Handelsblatts zeigen außerdem, dass die privaten Versicherer im vergangenen Jahr für jeden ihrer rund 167.000 vollversicherten Neukunden rund 11.000 Euro an Vertriebskosten eingesetzt haben.

Fakt 2

Der Anteil der Verwaltungskosten der privaten Versicherer liegt – v.a. wegen der hohen Ausgaben im Vertrieb – drei Mal höher als bei den öffentlichen Kassen

Selbstverständlich gilt für die gesetzlichen Krankenkassen – so wie man es von allen öffentlichen Einrichtungen erwartet – dass sie diszipliniert wirtschaften und ihre Verwaltungskosten möglichst gering halten. Die gesetzlichen Krankenkassen sollten auch seriöse Umstrukturierungsvorschläge und Sparpotenziale beherzigen und ihr Handeln der Öffentlichkeit gegenüber rechtfertigen. Im Endeffekt ändert sich jedoch nichts daran, dass die gesetzlichen Krankenkassen 94 Prozent ihrer Mittel für Gesundheitsleistungen, und nicht für die Verwaltung ausgeben. Die vom RWI festgestellten Einsparpotenziale in der Verwaltung sind so gering, dass kein/e Deutsche/r die Ersparnis in der Geldbörse überhaupt spüren würde.



Tabelle 1Verwaltungskosten in der GKV und PKV (Quelle: Handelsblatt 2010)

In anderen Bereichen der staatlichen Sozialversicherung ist der Verwaltungsaufwand noch wesentlich geringer als bei den gesetzlichen Krankenkassen. Die Deutsche Rentenversicherung Bund, der größte Träger der deutschen Rentenversicherung, gibt seine Verwaltungskosten mit 1,6 Prozent der Gesamteinnahmen an (Deutsche Rentenversicherung Bund, 2011). Was für die gesetzlichen Kassen gilt, gilt ebenso für die staatliche Sozialbürokratie: Auch die staatlichen Ausgaben für die Verwaltung im Sozialbereich machen nur einen Bruchteil der Gesamtkosten aus. Auch wenn bei der öffentlichen Auseinandersetzungen gerne das Gegenteil behauptet wird: Die Kosten für die gesamte Sozialverwaltung abseits der gesetzlichen Krankenkassen beziffert das Statistische Bundesamt auf 3,9 Mrd. Euro pro Jahr (Statistisches Bundesamt, 2010). Gemessen an den gut 100 Mrd. Euro Sozialbudget abzüglich der Versicherungsleistungen entspricht dies Verwaltungskosten in der Größenordnung von 3,6 Prozent. Das bedeutet, die in Deutschland geführten Debatten über die überbordende Bürokratie und den gefräßigen Staat sind über weite Strecken polemische Phantomdiskussionen.

Fakt 3

Die Verwaltungskosten der staatlichen Sozialbürokratie liegen bei etwa 3,6 Prozent und weisen damit keinesfalls auf eine Sickergrube für Steuergeld hin

Um nicht falsch verstanden zu werden: Jegliche konstruktive Diskussion, etwa über mögliche Zusammenlegungen von Kassen oder die Zentralisierung der Verwaltung, ist genauso legitim wie die Frage, ob die so genannte Ressourcenallokation (also der Einsatz der finanziellen Mittel) oder die Prioritätensetzungen im medizinischen Betrieb tatsächlich optimal funktionieren. Hierbei handelt es sich jedoch um komplexe gesundheitsökonomische bzw. medizinische Fachdiskussionen. Grundsätzlich gibt es mit Sicherheit Potential für eine qualitative Organisationsentwicklung des öffentlichen Gesundheitswesens, die auch mit Effizientsteigerungen verbunden wäre.
Eine solche Diskussion muss aber abseits aufgeregter Schlagzeilen stattfinden, die lediglich vermeintliche Kostenexplosionen und eine angeblich ausufernde Bürokratie herbeireden. Das Gesundheitswesen und der gesamte Sozialstaat haben fraglos Optimierungspotenziale. Wer permanent das Mantra des fettsüchtigen Staates wiederholt, stellt sich jedoch gegen die Fakten.

Literaturverzeichnis

  • Deutsche Rentenversicherung Bund (2012): Unternehmensprofil (Eingesehen am 18.09.2012).
  • Handelsblatt (2010): Beim Kassenwechsel droht Kostenfalle. Handelsblatt vom 06.10.2010.
  • OECD (2009): OECD Revenue Statistics 2009.
  • OECD (2011): OECD Health Data 2011.
  • Osterkamp, Nicole (2008): Verwaltungskosten in der GKV: Notwendiges Übel oder Grundvoraussetzung für eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung?
  • RWI (2010): Verwaltungskosten der Krankenkassen: Studie belegt Einsparungen in Milliardenhöhe. Pressemitteilung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung vom 01.07.2010.
  • Spiegel Online (2006): Krankenkassen entwickeln Fettsucht. Spiegel Online vom 04.08.2006.
  • Statistisches Bundesamt (2010): Statistisches Jahrbuch 2010.

Autor

Dr. Nikolaus Kowall

Dr. Nikolaus Kowall hat mit Unterstützung des IMK an der WU Wien zum Thema Wettbewerbsfähigkeit im Außenhandel promoviert. Seit 2015 leitet er die Geschäftsstelle des FGW in Düsseldorf.