STEUERMYTHEN

03. Juli 2024

„Das Ende der Schönwetterpolitik, wir müssen sparen“ 

 

Mythos

Im November letzten Jahres fällte das Bundesverfassungsgericht ein wegweisendes Urteil zur Schuldenbremse, das erhebliche Auswirkungen auf den Bundeshaushalt 2024 mit sich brachte. Die dadurch verursachte Finanzierungslücke betrug 17 Mrd. €. Die Vorschläge zur Schließung dieser Lücke zeigten tiefgreifende politische Differenzen zwischen der SPD und den konservativen und liberalen Positionen. Während FDP und CDU/CSU eine strenge Sparpolitik vertreten und eine massive Steigerung der Ausgaben in den letzten Jahren unterstellen, befürworten die SPD und auch Grüne eine aktive Wirtschaftspolitik und den Erhalt eines starken Sozialstaats. Diese Gegensätze manifestieren sich in Debatten darüber, ob der Staat in Anbetracht von krisenhaften Ereignissen und deren anhaltenden Folgen die Schuldenbremse in der aktuellen Ausgestaltung anwenden sollte oder die Notstandsregelung in Anspruch nehmen muss. Dieser grundlegende Konflikt hat die Haushaltsplanung für 2024 geprägt und bestimmt aktuell wieder die Debatte um die Finanzierungslücke des Haushalts 2025.

In den letzten Jahrzehnten stand das Dogma des ausgeglichenen Haushalts und der schwarzen Null im Mittelpunkt. Dringend notwendige Investitionen zum Erhalt oder gar Ausbau der öffentlichen Infrastruktur wurden unterlassen, wodurch sich ein Investitionsbedarf von konservativ geschätzt 600 Mrd. € für die nächsten 10 Jahre aufgebaut hat, wie eine gemeinsame aktuelle Studie von Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) und Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) zeigt. Es ist offenkundig: Diese Summe kann nicht mehr ausschließlich aus dem Haushalt gedeckt werden, weshalb Kreditaufnahmen oder gezielte Steuererhöhungen notwendig sind. Eine verantwortungsbewusste Finanzpolitik muss die Rahmenbedingungen für langfristig nachhaltiges Wachstum und wirtschaftliche Stabilität schaffen, daher sind Investitionen in die Zukunft unabdingbar. Es braucht einen Paradigmenwechsel: weg von dogmatischer Sparpolitik hin zu zielgerichteten Investitionen.

In diesem Mythos werden deshalb gängige Narrative, welche Steuererhöhungen und staatliche Kreditaufnahme pauschal ablehnen, kritisch beleuchtet.

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„Wie gierig der deutsche Staat geworden ist“  (Gabor Steingart, Focus online, 26.04.2024 1

Der Staat hat kein Einnahme-, sondern ein Ausgabenproblem
(Hans-Joachim Vieweger, Tagesschau Kommentar, 05.07.2023 2

Das Jahrzehnt der Verteilungspolitik ist beendet, es muss ein Jahrzehnt des Erwirtschaftens folgen
(Bundesfinanzminister Christian Lindner, 04.09.2023) 3

Wir investieren auf Rekordniveau
(Bundesfinanzminister Christian Lindner, 13.12.2023) 4

Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen
Bundesfinanzministerium, 15.04.2024) 5

 

Mythos 1: „Deutschland hat Rekordeinnahmen, aber das reicht immer noch nicht“! „Der Staat hat kein Einnahmen-, sondern ein Ausgabenproblem.“

Fast jedes Jahr erregt die Meldung neuer nominaler Steuerrekorde Aufsehen. Diese werden als Zeichen dafür gedeutet, dass der Staat immer höhere Steuern erhebt, aber trotzdem mit den Einnahmen nicht seine Aufgaben erfüllt. Dementsprechend liege kein Einnahmenproblem vor, sondern ein Ausgabenproblem, was durch Priorisierungen gelöst werden muss.

Allerdings deuten nominale Steuerrekorde in den meisten Fällen nicht auf eine höhere Steuerbelastung hin. Denn nominale Steuereinnahmen nehmen naturgemäß mit Wirtschaftswachstum und Inflation zu. Steuerrekorde sind also schlicht Ausdruck “normaler“ wirtschaftlicher Entwicklung. Das erklärt auch, warum es zwischen 1966 und 2022 in 48 von 57 Jahren nominale Steuerrekorde gegeben hat. Grundsätzlich ist diese Wechselwirkung – Wirtschaftswachstum und höhere Steuereinnahmen – sinnvoll, denn der Staat muss die Bereitstellung öffentlicher Güter für gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Entwicklungen weiterhin sicherstellen. Das kann er nur, wenn bei den gestiegenen Preisen für öffentliche Aufgaben auch die Steuereinnahmen steigen.

Darüber hinaus hat das BMF 6 in der neuesten Datensammlung der Steuerpolitik selbst ausgewiesen, dass die Steuerbelastung mit dem Inflationsausgleichsgesetz im Jahr 2024 um 15 Milliarden € gesunken ist. Dabei stellt 2024 keine Ausnahme dar, sondern ist Teil eines generellen Trends. Tabelle 1 zeigt dies anhand der Entwicklung der Einkommensteuerbelastung seit 2000. In den letzten 24 Jahren ist für alle Einkommensbereiche der Durchschnittssteuersatz dauerhaft gesunken. Bach, Beznoska, und Steiner (2017) stellen allerdings auch fest, dass die Umverteilungswirkung des Steuersystems zwischen 1998 bis 2015 abgenommen hat.

Fakt 1

In den letzten 24 Jahren ist für alle Einkommensbereiche der Durchschnittssteuersatz dauerhaft gesunken.

Das begründen sie mit dem Anstieg der indirekten Steuern, wodurch besonders einkommensschwache Schichten belastet werden.

Entwicklung der Einkommensteuer
Durchschnittssteuersatz in Prozent (Einzelveranlagung)

zu versteuerndes Einkommen in €

2000

2005

2010

2015

2020

2024

20.000

17,9 14,3 13,5 13,1 11,7 8,8

50.000

30,3 26,2 25,7 25,5 24,3 21,8

80.000

37,8 32,1 31,8 31,7 30,8 28,7

100.000

40,5 34,1 33,8 33,7 33,0 31,4
150.000 44,0 36,7 36,6 36,5 36,0 34,9

Tabelle 1 Quelle: BMF-Datensammlung der Steuerpolitik

Entwicklung der Einkommensteuer
Durchschnittssteuersatz in Prozent (Einzelveranlagung)

Tabelle 1 Quelle: BMF-Datensammlung der Steuerpolitik

Somit ist auf Einnahmenseite festzuhalten, dass Bürger*innen mit mittleren und hohen Einkommen in den letzten 24 Jahren entlastet wurden und die nominalen Steuerrekorde auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation zurückzuführen sind. Dabei erhöht die Inflation die Einnahmen und Ausgaben des Staates in etwa proportional, wodurch es einkommensneutral für den Staat wirkt. Das Wirtschaftswachstum geht einher mit technologischem und gesellschaftlichem Wandel, wodurch sich die Anforderungen an den Staat verändern.

In der aktuellen Situation übersteigen die Anforderungen der Klimatransformation bei weitem den Anstieg der staatlichen Einnahmen. Hinzu kommen die außerordentlichen Ausgaben für das Militär und die Hilfemaßnahmen für aktuelle Krisenereignisse. Die Veränderungen in den Anforderungen übersteigen also momentan deutlich die Steigerungen der Steuereinnahmen aus der wirtschaftlichen Entwicklung.

Damit stellt sich die Frage, ob übermäßige Ausgaben gekürzt werden können, um diese Differenz decken zu können. Von Seiten der FDP und CDU/CSU wird hier auf die Ausgaben für den Sozialstaat verwiesen. Allerdings stellten Dullien und Rietzler (2024) fest, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht übermäßig viel für den Staatsapparat oder den Sozialstaat ausgibt. Zu diesem Ergebnis kamen sie durch den Vergleich der Staatsquote, dem Anteil öffentlicher Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung und den staatlichen Sozialausgaben in % des BIP.

Zusammenfassend gibt es keine übermäßigen Ausgaben, die gestrichen werden könnten und die staatlichen Einnahmen sind deutlich weniger angestiegen als die Anforderungen an sie. Somit ergibt sich eine Finanzierungslücke, welche sich auf die Investitionstätigkeit des deutschen Staates auswirkt.

Mythos 2: „Wir investieren auf Rekordniveau“

Von Befürwortern der Sparpolitik wird immer darauf hingewiesen, dass wir trotz der Sparanstrengungen auf Rekordniveau investieren. In diesem Sinne hat das Bundesfinanzministerium in ihrem vorläufigen Jahresabschluss 7 des Bundeshaushalts 2023 nominale Rekordinvestitionen in Höhe von 55 Mrd. Euro ausgewiesen. Das entspricht einer Steigerung von 8,7 Mrd. € im Vergleich zum Vorjahr. Um diese Beträge einordnen zu können, sind in den Abbildung 1-3, einerseits die Nettoinvestitionen und andererseits die deutsche Investitionstätigkeit im internationalen Vergleich dargestellt.

Abbildung 1 Quelle: statistisches Bundesamt, eigene Berechnung

Abbildung 2 Quelle: statistisches Bundesamt, eigene Berechnung

Die Nettoinvestitionen in Abbildung 1 ergeben sich aus den Bruttoinvestitionen abzüglich der Abschreibungen und werden nach Gemeinden, Ländern und dem Bund in Mrd. € aufgeschlüsselt. Negative Nettoinvestitionen zeigen also einen Verfall der Infrastruktur an und positive einen Ausbau. In der Grafik ist deutlich eine Trendwende zu erkennen. Die Nettoinvestitionen der Kommunen schrumpfen von einem hohen positiven Niveau in den 90er Jahren und kehren sich in den 2000er Jahren ins Negative um. Genau gegenläufig, aber weniger ausgeprägt, verhalten sich die Nettoinvestitionen des Bundes. Die Länder hingegen weisen mit wenigen Ausnahmen durchgehend positive Nettoinvestitionen auf. Zusammenfassend ist in Abbildung 2 die kumulierte Veränderung des Kapitalstocks seit der Trendwende im Jahr 2000 abgebildet. Die kommunale Infrastruktur ist demnach um 93 Mrd. € geschrumpft. Eine Studie des Difu Instituts (Arndt und Schneider 2023) zur kommunalen Infrastruktur zeigt, was das in der Realität bedeutet: ein Drittel der Straßen weisen größere Mängel auf und die Hälfte der Brücken sind in keinem guten Zustand. Sie beziffern den Instandhaltungsbedarf auf kommunaler Ebene bis 2030 auf 310 Mrd. € und errechnen weitere 60 Mrd. € für die geplante Verkehrswende. Dieser Missstand ist besonders bei den Kommunen schon lang bekannt. Sie beklagen, dass sie strukturell unterfinanziert sind und deshalb Investitionen nicht mehr tätigen können. Dementsprechend fordert der Städte- und Gemeindeverbund 8 eine bessere finanzielle Ausstattung der Kommunen durch Bund und Länder. Somit sind die ausgewiesenen Rekordinvestitionen des Bundes nur ein Zeichen der Verschiebung der Investitionen von Kommunen hin zum Bund und deutet nicht auf eine starke Investitionstätigkeit des deutschen Staates als Ganzes hin.

 Denn das Gegenteil ist der Fall. Abbildung 3 zeigt, dass Deutschland im internationalen Vergleich über 20 Jahre hinweg die niedrigsten Investitionen, gemessen am BIP, getätigt hat. Rösel und Wolffson (2022) beschrieben dieses Phänomen mit den Worten „Chronischer Investitionsmangel – eine Deutsche Krankheit“. Der Erfolg eines nominalen Investitionsrekords beruht also auf der schwachen Investitionstätigkeit der letzten 20 Jahren.

Fakt 2

Der Erfolg eines nominalen Investitionsrekords beruht auf der schwachen Investitionstätigkeit der letzten 20 Jahren

 

Abbildung 3 Quelle: OECD-Daten, eigene Darstellung

Über die Zeit hat das dazu geführt, dass sich ein immenser Investitionsbedarf aufgestaut hat. In einer aktualisierten Fassung der gemeinsamen Studie des IMK und des IW (Dullien u. a. 2024) wurde dieser auf konservativ 600 Mrd. € geschätzt. Darin berücksichtigt werden die Bereiche kommunale und überregionale Infrastruktur, Bildung, Wohnungsbau und Klimaschutz.

Ausgenommen sind notwendige Ausgaben für das Militär. Die Autoren empfehlen die Aufnahme von Krediten, um jährlich 60 Mrd. € in 10 Jahren zu investieren. Davon entfällt ein mittlerer zweistelliger Milliardenbetrag auf den Bund und dieser investiert aktuell inflationsbereinigt 9  nur etwa 6 Mrd. € 10 zusätzlich. Die Rekord­investitionen decken also bei weitem nicht den Bedarf an Investitionen ab. In der hitzigen Debatte um die Schließung der Finanzierungslücke von 17 Mrd. € im Haushalt

Fakt 3

Der zusätzliche staatliche Investitionsbedarf liegt konservativ geschätzt bei 600 Mrd. €.

2024 wurde sehr klar, dass durch Priorisierungen im Haushalt nicht noch weitere mittlere zweistellige Milliardenbeträge aufgebracht werden können. Somit muss in der aktuellen Haushaltsaufstellung für 2025 dieser Bedarf durch Kredite oder Steuererhöhungen erschlossen werden. Dem wird oftmals entgegnet, dass Steuererleichterungen angebracht wären, da schon genug umverteilt wurde und die Wirtschaft gestärkt werden muss.

Mythos 3: „Das Jahrzehnt der Verteilungspolitik ist beendet, es muss ein Jahrzehnt des Erwirtschaftens folgen“

In dieser Aussage wird ein Zielkonflikt zwischen Verteilungspolitik und Wirtschaftswachstum aufgemacht, der nach dem angeblichen Jahrzehnt der Umverteilung, wieder zugunsten der Wirtschaft ausfallen solle.

Um zu beurteilen, ob tatsächlich ein Jahrzehnt der Verteilungspolitik stattgefunden hat, analysieren wir die Entwicklung der Vermögens- und Einkommensverteilung in den letzten Jahrzehnten. Eine ausgeprägte Verteilungspolitik hätte wahrscheinlich die Ungleichheit verringert. Dafür sind in Abbildung 4 Vermögens- und Einkommensginikoeffizienten abgebildet. Diese sind Maße für die Ungleichverteilung, welche Werte zwischen 0 und 1 annehmen können. Dabei sind Werte nahe bei 1 Ausdruck einer starken Ungleichverteilung. Entgegen der Darstellung von Bundesfinanzminister Christian Lindner weisen sowohl der Vermögens- als auch der Einkommensgini von 1995 bis 2021 einen Anstieg der Ungleichheit auf. Stärker ausgeprägt ist dieser bei der Einkommensungleichheit. Dafür belief sich der Vermögensgini bereits 1995 auf einem sehr hohen Niveau von 0,73. Der „Knick“ in der Vermögensungleichheit in den Jahren 2007 und 2008 ist dabei auf die Finanzkrise zurückzuführen und ist kein Ausdruck umverteilender Steuerpolitik. Zudem erfassen Gini-Koeffizienten nicht alle Aspekte der Verteilung gleichmäßig. Die Studie von Schröder und Koautor*innen  (2020) stellt fest, dass die Extrema an beiden Enden der Vermögensverteilung unterschätzt werden, was die Ungleichheit noch gravierender ausfallen lässt als die meistens genutzten Gini-Werte nahelegen. Unter Berücksichtigung dieser Verzerrung wurde ein Vermögensgini von 0,83 errechnet. Für Deutschland bedeutet das, dass die reichsten zwei Familien so viel besitzen wie die Unteren 50% der Menschen. In Deutschland sind das 41,5 Millionen.

Abbildung 4 Quelle: Word Inequality Database, eigene Darstellung

 

Dass es kein Jahrzehnt der Umverteilung gegeben hat, bestätigen Bach und Koautoren (2017) in ihrer Analyse der Entwicklung der Verteilungswirkung des deutschen Steuersystems zwischen 1998 und 2015. Denn demzufolge hat die Umverteilungswirkung des Steuersystems abgenommen. Das führen sie zurück auf einen Anstieg der indirekten Steuern und einen Rückgang der Progressivität der Einkommensteuer.

Fakt 4

 Das Jahrzehnt der Verteilungspolitik hat es nicht gegeben.

Ähnlich wie auf der staatlichen Einkommensseite kam es auch auf der Ausgabenseite zu keinem Jahrzehnt der Umverteilung. Denn wie in Mythos 1 angesprochen haben Dullien und Rietzler (2024) festgestellt, dass es keinen bedeutenden Ausbau des Sozialstaates gegeben hat.
Das Jahrzehnt der Verteilungspolitik hat es also nicht gegeben.

 

Somit stellt sich noch die Frage, ob Umverteilung und Wirtschaftswachstum in einem Zielkonflikt zueinander stehen. International beschäftigt sich die Literatur ausgiebig mit diesem Zusammenhang. Allerdings kommen sie zu unterschiedlichsten Ergebnissen, sowohl in der Richtung als auch in der Stärke des Zusammenhangs. Der Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (2016) argumentiert, dass der Zielkonflikt in den modernen Industriestaaten wie Deutschland nicht mehr gilt. Stattdessen bremst eine hohe Ungleichheit das Wirtschaftswachstum aus. Das kommt daher, dass höhere Ungleichheit zu einer schwächeren Binnenmarktnachfrage führt, da Bürger*innen mit höherem Einkommen prozentual weniger konsumieren. Zudem führt hohe Ungleichheit zu Unterinvestitionen in öffentliche Güter wie Bildung und Infrastruktur, was die Produktivität und das Wachstumspotenzial mindern. Albig und Koautoren (2017) berechnen in ihrem Modell, dass das deutsche BIP im Jahr 2015 40 Mrd. höher wäre, wenn allein die Einkommensungleichheit auf dem Level von 1991 geblieben wäre. Dementsprechend sollte in Deutschland gezielt umverteilt werden, um das Wirtschaftswachstum anzukurbeln.

Mythos 4: „Schulden gehen zu Lasten der nächsten Generation“

In diesem Mythos wird versucht die Schuldenaufnahme pauschal über eine angebliche Generationengerechtigkeit abzulehnen. Allerdings stellt es für die nächste Generation einen fundamentalen Unterschied dar, wofür Kredite ausgegeben werden. Je nachdem, ob damit konsumtive  Ausgaben oder Investitionen finanziert werden, stellen sie eine Last oder eine Bereicherung für die nächste Generation dar. So urteilte das BVerfG, dass zukünftige Generationen nicht durch unterlassene Investitionen mit einer „radikalen Reduktionslast [des CO2 Budgets]“ (Bundesverfassungsgericht 2021) belastet werden dürfen.

Damit forderte das BVerfG die Bundesregierung auf mehr in den Klimaschutz zu investieren und nicht weniger Schulden zu machen. Zudem haben Krebs und Scheffel (2017) aus ökonomischer Perspektive dargelegt, dass Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Wohnungsbau sich über 16 bis 26 Jahre selbst finanzieren würden. Danach würden diese zum Abbau der Schuldenquote beitragen, da die Investitionen bestehen bleiben und der Staat über positive Externalitäten daran profitiert. Beispielsweise führen Investitionen in Kitas und Schulen zu einer besseren

Fakt 5

Schuldenfinanzierte Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Wohnungsbau finanzieren sich innerhalb einer Generation selbst.

Ausbildung der kommenden Generationen und dadurch über höheres Humankapital zu einem Anstieg der zukünftigen Einkommen und Steuereinnahmen. Gleichzeitig führt die ausgebaute Kinderbetreuung dazu, dass Eltern, insbesondere Frauen, stärker am Arbeitsmarkt partizipieren können. Die fiskalische Rendite der von Krebs und Scheffel (2017) geforderten Investitionen liegt den Autoren zufolge im Bereich der Bildung bei 12%, im Bereich der Infrastruktur bei 8% und beim Wohnungsbau bei 7%. Im Vergleich dazu liegen die Zinsen der Neuverschuldung des Staates aktuell bei 2,11% 11 . Somit übersteigen die Erträge aus den Investitionen die Kosten der Kredite bei weitem. Die Investitionen könnten also getätigt werden, ohne dass jemals Steuern erhöht werden müssen.

Darüber hinaus protestiert ein beträchtlicher Teil der jungen Generation bei Fridays for Future nicht für geringere Schulden, sondern für die Einhaltung des 1,5-Grad Ziels. Sie fordern die Schuldenaufnahme in Form eines Sondervermögens von
100 Mrd. € 12 zur Bekämpfung des Klimawandels. Eine Sparpolitik über die Rücksichtnahme auf die nächste Generation verargumentieren zu wollen, steht also im genauen Gegensatz zu dem, was die junge Generation will, und wovon kommende Generationen profitieren würden.
Statt staatliche Kredite grundsätzlich abzulehnen, verlangt eine generationengerechte Finanzpolitik nach schuldenfinanzierten Klimaschutzmaßnahmen und Infrastrukturinvestitionen, in denen die fiskalische Rendite die Zinslast übersteigt.

Das Jahrzehnt der Investitionen

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Sparpolitik der letzten Jahrzehnte zu einem immensen staatlichen Investitionsbedarf von konservativ geschätzt 600 Mrd. € geführt hat. Somit müssen über die nächsten 10 Jahre jährlich zusätzlich 60 Mrd. € aufgebracht werden, um die Infrastruktur zu sanieren und zu modernisieren. In der Debatte um den Haushalt 2024 war gut zu sehen, wie schwer es ist eine Finanzierungslücke von lediglich 17 Mrd. € allein durch Priorisierungen zu schließen. Um den Investitionsbedarf decken zu können, müssen also gezielte Steuererhöhungen oder Kreditaufnahmen eingesetzt werden, um die finanziellen Spielräume zu erweitern. In den Mythen dazu wurde gezeigt, dass gezielte Steuererhöhungen das Wirtschaftswachstum unterstützen kann und eine generationengerechte Finanzpolitik kreditfinanzierte Investitionen in kritische Infrastruktur und Klimaschutz rechtfertigt.

Entsprechend ökonomischer Grundlagen sollte der Staat im Idealfall anti-zyklisch Ausgaben tätigen. In der aktuellen Situation schwacher wirtschaftlicher Entwicklung 13 bedeutet das, dass der Staat expansive Fiskalpolitik betreiben sollte, um eine Rezession zu verhindern und die Wirtschaft anzukurbeln. Konjunkturell betrachtet ist daher jetzt der passende Zeitpunkt, um Investitionen zu tätigen.

Dafür spricht ebenfalls, dass der finanzielle Spielraum aktuell noch am höchsten ist. Denn die Belastung der staatlichen Finanzen wird in den nächsten Jahrzehnten aufgrund des demografischen Wandels und des Klimawandels stetig steigen. Schon 2023 muss die Rentenkasse mit 103 Mrd. €, also etwa einem Viertel des Bundeshaushalts 14 , bezuschusst werden. Dieser Teil wird bis etwa 2035 weiter ansteigen, da die geburtenstärkste Generation in das Rentensystem eintreten wird. Dadurch werden gleichzeitig die Einnahmen aus Erwerbsarbeit sinken und die Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung ansteigen. In Bezug auf den Klimawandel werden allein die Kosten zukünftiger Extremwetterereignisse bis 2050 auf 280 Mrd. € bis 900 Mrd.€ (Bundesumweltministerium 2023) geschätzt. Diese beiden Entwicklungen sind die größten fiskalpolitischen Herausforderungen der nächsten Jahrzehnte und werden enorme finanzielle Mittel beanspruchen. Somit müssen die nächsten 10 Jahre genutzt werden, um den Investitionsbedarf zu decken.

Abbildung 5 Quelle: World Economic Outlook, Internationaler Währungsfonds (IMF), eigene Darstellung

Die Abbildung 5 zeigt dafür, dass Deutschland im internationalen Vergleich eine sehr niedrige Schuldenstandsquote aufweist und dementsprechend ausreichend finanziellen Spielraum aufweist um die Investitionen kreditfinanziert decken zu können. Wenn die gesamten 600 Mrd. € durch Kredite finanziert werden würden, würde die deutsche Schuldenquote immer noch etwa 20 Prozentpunkte unterhalb der des Vereinigten Königreichs liegen. In diesem Zusammenhang sprechen sich auch internationale Stimmen wie der IWF 15 und die EU-Kommision16  für mehr Flexibilität in den Schuldenregeln aus und fordern eine stärkere Investitionstätigkeit des deutschen Staates.

Neben der Kreditfinanzierung bietet auch die Steuerpolitik Möglichkeiten, um finanzielle Mittel aufzubringen. Stellschrauben in der Steuerpolitik finden sich überwiegend in vermögensbezogenen Steuern, da diese die konjunkturelle Erholung nicht beeinträchtigen, die Vermögensungleichheit verringern und bedeutende finanzielle Mittel freisetzen können. So berechnet das Netzwerk Steuergerechtigkeit Mehreinnahmen aus der Erbschaftsteuer von jährlich 10 Mrd. €, sollte die Begünstigung von Betriebsvermögen abgeschafft und die Freibeträge reformiert werden (Jirmann 2023). In unserem Mythos „Die Erbschaftsteuer auf Betriebsvermögen gefährdet Arbeitsplätze“ erklären wir, warum eine Verschonung von Betriebsvermögen nicht notwendig ist. Weitere 10 Mrd. € jährlich könnten laut dem DIW über eine Vermögenssteuer von 1% ab einem Nettovermögen von 20 Millionen € erzielt werden (Bach 2021). Im Bereich der Steuerhinterziehung sieht das DGB-Steuerkonzept potenzielle Mehreinnahmen von jährlich 17 Mrd. €, wenn Steuerhinterziehung stärker verfolgt wird (Körzell 2021). Die Höhe der Mehreinnahmen basiert bei allen Reformen stark auf den Details der Ausgestaltung, jedoch kann durch diese Reformen ein großer Teil der notwendigen Mittel für die Investitionen aufgebracht werden, ohne dabei die breite Bevölkerung stärker zu belasten.

Fazit

Die Sparpolitik der letzten Jahrzehnte hat einen zusätzlichen jährlichen Investitionsbedarf von 60 Milliarden Euro über die nächsten zehn Jahre verursacht. Das stellt eine Summe dar, die die Gebietskörperschaften nicht allein durch Priorisierung aufbringen können. Deshalb sind gezielte Steuererhöhungen und die Aufnahme von Krediten notwendig, um die Infrastruktur zu modernisieren und damit zukunftsfähige Rahmenbedingungen zu schaffen. Narrative, welche eine grundsätzliche Ablehnung von Steuerhöhungen und Kreditaufnahme fordern, entbehren einer differenzierten Betrachtung. Angesichts der anhaltenden Folgen multipler Krisen und einer stagnierenden Wirtschaft ist eine strikte Sparpolitik kontraproduktiv und widerspricht dem Prinzip einer antizyklischen Fiskalpolitik. Ein wirtschaftlicher Impuls durch staatliche Investitionen in kritische Infrastruktur ist sowohl konjunkturell als auch ökonomisch langfristig geboten. Die Finanzierung dieser Investitionen über Steuererhöhungen und Kredite ist nicht nur notwendig, sondern auch ökonomisch machbar. Es müssen daher rechtliche und politische Lösungen gefunden werden, um diese Investitionen zu realisieren. Die nächsten zehn Jahre sind dabei kritisch, da die finanzielle Belastung der öffentlichen Haushalte durch den demografischen und klimatischen Wandel, zunehmender Bedarfe hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie der notwendigen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund stark zunehmen wird. In diesem Zusammenhang wirkt die Schuldenbremse als eine Zukunftsbremse und muss so reformiert werden, dass sie die notwendigen Investitionen zulässt. In unserem nächsten Mythos werden wir die möglichen Reformoptionen aufzeigen.

Literaturverzeichnis

Albig, Hanne, Marius Clemens, Ferdinand Fichtner, Stefan Gebauer, Simon Junker, und Konstantin Kholodilin. 2017. „How Rising Income Inequality Influenced Economic Growth in Germany“. DIW Economic Bulletin 7(10):113–21.

Arndt, Wulf-Holger, und Stefan Schneider. 2023. Verkehrswende mit Investitionen in die Infrastruktur der Kommunen vorantreiben. Text. Deutsches Institut für Urbanistik.

Bach, Stefan. 2021. „Grunderbe und Vermögensteuern können die Vermögensungleichheit verringern“. DIW Wochenbericht 88(50):807–15. doi: 10.18723/diw_wb:2021-50-1.

Bach, Stefan, Martin Beznoska, und Viktor Steiner. 2017. „Wer trägt die Steuerlast? Verteilungswirkungen des deutschen Steuer- und Transfersystems“.

Bundesumweltministerium. 2023. „Kosten des Klimawandels in Deutschland | Bundesregierung“. Die Bundesregierung informiert | Startseite. Abgerufen 23. Januar 2024 (https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/kosten-klimawandel-2170246)

Bundesverfassungsgericht, 1 Senat. 2021. „Bundesverfassungsgericht – Entscheidungen – Verfassungsbeschwerden gegen das Klimaschutzgesetz teilweise erfolgreich“. Abgerufen 12. Juni 2024 (https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/03/rs20210324_1bvr265618.html).

Dullien, Sebastian, Simon Gerards Iglesias, Michael Hüther, und Katja Rietzler. 2024. „Herausforderungen für die Schuldenbremse“.

Dullien, Sebastian, und Katja Rietzler. 2024. Die Mär vom ungebremst wachsenden deutschen Sozialstaat.

Jirmann, Julia. 2023. „Der Weg zu einer gerechten Erbschafts – und Schenkungsteuer – ein Reformvorschlag – Netzwerk Steuergerechtigkeit“. Abgerufen 28. April 2024 (https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/der-weg-zu-einer-gerechten-erbschaftsteuer-reformvorschlag/).

Körzell, Stefan. 2021. DGB-Steuerkonzept: Steuergerechtigkeit herstellen, Staatsfinanzen stärken.

Krebs, Tom, und Martin Scheffel. 2017. „Inklusives Wachstum für Deutschland 17: Öffentliche Investitionen und inklusives Wachstum in Deutschland“.

Rösel, Felix, und Julia Wolffson. 2022. „Chronischer Investitionsmangel – eine deutsche Krankheit“. Wirtschaftsdienst 2022(7):529–33.

Stiglitz, Joseph E. 2016. „Inequality and Economic Growth“. 134–55. doi: 10.7916/d8-gjpw-1v31.

Autoren

Michael Schrodi
ist finanzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und seit 2017 Mitglied im Deutschen Bundestag. Seit Mitte 2023 hat er den Vorsitz der “Steuermythen“ übernommen.

Elias Sailer
ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt „Steuermythen“ und derzeit Masterstudent der Sozioökonomie. Zuvor hat er seinen Bachelorabschluss in Volkswirtschaftslehre an der Ludwig-Maximilians-Universität München erworben.